BSG Wismut Gera
Wankdorf zwischen Wintergarten und Wiesestraße

Mit zwei weinenden Augen

Auch in einem der geschichtsträchtigsten Stadien der Welt, dem Wankdorfstadion in Bern, welches über 70 Jahre Heimstätte des schweizerischen Erstligisten BSC Young Boys und das größte Stadion der Schweiz war, flossen bittere Tränen, als es 2001 abgerissen wurde und dem neuen, modernen Stade de Suisse weichen musste. Ein Zufall, dass ein großer Turm mit Uhr den Zuschauern und Gästen bereits von weiten seinen historischen Standort signalisierte? Ein kleines Spiegelbild?

Standortwechsel. Mitte der 1950-er Jahre. Gera. Noch vom Krieg, besonders vom zehnten Luftangriff am 06. April 1945, gezeichnet, entwickelt sich knapp zehn Jahre später alles ganz allmählich. Industrie siedelt sich an, der Alltag ist wieder zu bewältigen. Auch mit Lebemsmittelkarten. Dennoch fehlt es an Vielem. Nicht jedoch an Idolen und Idealen, nicht an Hoffnung, nicht an einem festen Willen. Auch, wenn die Einkommen doch recht bescheiden und die Möglichkeiten schmal sind.

Schmal ist auch der Weg, der von Debschwitz aus zum Wintergarten führt. Unter der Woche ist er einzelnen Passanten vorbehalten, die privat oder dienstlich von der einen auf die andere Seite der Weißen Elster wechseln müssen. An schönen und sonnigen Tagen trifft man dort, unweit eines Fußballplatzes, Spaziergänger und Pärchen, die einfach ein wenig schlendern wollen. Etwa 500 Meter weiter, elsteraufwärts, erhebt sich der kleine Strand des damals so genannten Fluß-Bades. Kinder toben in der Gicht des Wassers, Eltern sonnen sich im neuen Frieden. Idylle pur. Idylle zwischen Wintergarten und Debschwitz. Idylle zu einer Zeit, als sich vieles noch viel langsamer bewegte als heute und die Menschen das Wort Glück mit einfachen und banalen Dingen in Verbindung brachten.

Vor dem Haus „Wiesestraße Nr. 96", dem bescheidenen Heim eines unserer Zeitzeugen, hält an diesem verregneten Sonntag wieder quietschend eine der vielen Straßenbahnen, teilweise noch mit offenem Fahrerstand und „Chauffeur" in Uniform. Männer im damals modernen Trenchcoat und mit Hut steigen zügig aus, öffnen schnell Ihren Schirm und überqueren hastig die sich im Regen spiegelnde Wiesestraße. Unser Zeitzeuge reiht sich ein. Sie eilen an den Pfützen, der starren grauen Mauer des Südfriedhof und der direkt am Fluss gelegenen Feuerwerksfabrik entlang Richtung Elster. Noch ist die Straße breit genug. Bald aber wird es eng. Eine schmale, etwa gut 100 Meter lange und wackelige Holzbrücke wird zum Nadelöhr. Dichtgedrängt schieben sich die Massen über die gerade einmal knapp zwei Meter breite Fußgängerbrücke, die über die Elster führt. Auch im anschließenden sich schnell füllenden weiten Rund ist nach und nach kaum Platz zum Atmen. Mehr als Zehntausend stehen dichtgedrängt auf den nassen und durchweichten Hängen. Der beißende Geruch von Turf und Karo bedeckt das große Areal. Der Regen zerfrisst ihren Qualm. Hüte verdecken die wartenden und nassen Gesichter. Im Stimmengewirr der Männer, welches vom Geräusch der Regentropfen fast zerdrückt wird, ist die Spannung regelrecht zu greifen. Ein Bild wie 1954 in Wankdorf. Unaufhörlich prasselt der Regen nieder. Ja, man ist im Stadion. Man ist in dem Stadion, welches nach dieser kleinen, schmalen und engen Holzbrücke benannt ist. Man ist am Steg. Man ist zum Fußball. Alle sind auf dem Weg zur Wismut. Es geht um den Aufstieg. Egal bei welchem Wetter. An welchem Tag genau das alles passierte, konnte unser Zeitzeuge nicht mehr mit Gewissheit sagen. Jedoch eines steht fest. Es war nach dem 17.08.1952, dem Tag als das Stadion am Steg offiziell eröffnet wurde.

Ja, man liebte seine Idole, die nur wenige Jahre davor knapp an einem ganz großen Titel vorbeischrammten, als das allererste Finale im DDR-FDGB-Pokal vor 10.000 Zuschauern im Kurt-Wabbel-Stadion in Halle gegen die BSG Wagonbau Dessau denkbar knapp und unglücklich mit 1:0 verloren ging. Seinerzeit noch unter dem Namen BSG Gera-Süd, seit 1953 unter dem Namen BSG Wismut Gera. Apropos Namen. Siegfried Offrem, Fritz Zergiebel, Manfred Kaiser und Bingfried Müller werden den Jungen unter uns kaum mehr etwas sagen. Aber die Alten, die kommen beim Lesen dieser Namen ins Schwärmen und beginnen zu erzählen. Wie auch einer unserer Zeitzeugen. Er erzählt von der Wismut, von Torhüter Offrem, vom späteren Nationalspieler Manni Kaiser und immer wieder vom Steg. Jahre später aber war alles vorbei. Wismut musste umziehen. Eigentlich bilden sie eine nicht zu trennende Symbiose. Die Wismut und das Stadion am Steg. Eigentlich.

Stadion am Steg (Foto: Quelle www.gera-chronik.de)

Damals zog man ins zwischen 1952 und 1955 neu erbaute Stadion der Freundschaft, welches seinerzeit ein Fassungsvermögen von 35.000 Zuschauern hatte. Aber auch hier konnte man eine Vielzahl von Siegen und Erfolgen feiern. Die Aufstiegsspiele zur DDR-Oberliga gegen damals solch klangvolle Gegner wie Stahl Riesa, Chemie Leipzig oder Chemie Böhlen waren Zuschauermagneten und zogen zig-tausende zur Wismut. Udo Korn, bereits als 9-jähriger eine fanatischer Anhänger und Nachwuchsspieler von Wismut Gera, sollte später im Stadion der Freundschaft seine großen Zeiten finden. Noch heute ist er in Gera Idol von Jung und Alt. Schwarz-Weiße Zeitungsfotos aus der FuWo hingen an den Wänden der Kinderzimmer, wissen Zeitzeugen noch heute zu berichten. Bilder von Udo Korn. Mit dem Geraer Urgestein konnte Wismut Gera sich dauerhaft in der DDR-Liga-Spitze festsetzen und behaupten. Im dritten Anlauf schaffte das Team 1977 als Zweitplatzierter der Aufstiegsrunde den Sprung in die Oberliga. 35.000 Zuschauer fieberten mit den Spielern auf dem Rasen. Besonders in der Aufstiegsrunde hatte Udo Korn mit seinen fünf Toren die Fans frenetisch jubeln lassen. Noch heute bekommt einer unserer Zeitzeugen, der damals als B-Junioren-Spieler Balljunge im Stadion der Freundschaft war, Gänsehaut, wenn er daran denkt, als über 30.000 Zuschauer „Tor" schrien. In Gera.

Das alles ist nun Geschichte. Aber eines bleibt: Die Erinnerung an diese Zeit. Die Erinnerungen der Zeitzeugen. Diese gehen mit den ersten großen Jahren der BSG Wismut Gera in der DDR-Oberliga und dem Stadion am Steg einher, auch wenn die eigentliche Heimstätte der Kumpels zwischenzeitlich einen gesellschaftsnotwendig neuen Namen erhielt. Bis Ende der 1980-er Jahre „schmückte" der Name Artur Becker die Sportanlage. In dieser Zeit das zu Hause der SG Dynamo Gera.

Und heute? Ein Deja-vu? Abermals muss man den geliebten „Steg" verlassen. Dem Hochwasser, wie auch 1954 schon einmal äußerst zerstörerisch, geschuldet, ist das Funktionsgebäude seit nunmehr fast zwei Jahren kaum noch zu nutzen. Einem neuen Sanitärtrakt mit modernen Umkleiden und Büros muss das altehrwürdige Gebäude, welches wie in Wankdorf schon von weiten an seinem charakteristischen Turm mit der Uhr zu erkennen ist, bald weichen. Schaut alle noch einmal genau hin!

Mit bitterer Miene wird die Oberliga-Mannschaft ihre Heimspiele nun vorrübergehend im Stadion der Freundschaft bestreiten. Nein, nicht, dass man dieses Stadion nicht mag - es ist recht modern und bietet gegenüber dem Stadion am Steg auch einige Vorteile – aber Fans und Spieler stehen dem Umzug mit mehr als nur einem weinenden Auge gegenüber. Nicht zuletzt sind auch viele euphorisch gefeierte Erfolge mit zeitnahen Erinnerungen an den Aufstieg in die Oberliga 2015 verbunden. Apropos Aufstieg. Auch den konnte die BSG Wismut Gera schon früher einmal feiern. 1977. Im Stadion der Freundschaft. Vielleicht also doch gar kein so schlechtes Omen …

Glück auf! Auf Wiedersehen im Stadion am Steg.

( Heiko Linke, 09.09.2015)